Dienstag, 2. Juni 1840

3112 0 0

Arminio

Die Landkarte knisterte, als Arminio sie auf seinem Schreibtisch in Rom auffaltete. Da er kein Erdmagier war, hatte er sich vor einigen Tagen die wichtigsten Minen eingezeichnet und sie mit Zahlen in der entsprechenden Reihenfolge nummeriert, in der er sie anschließend besucht hatte. Seine Finger streiften über die roten Markierungen und er grinste. Als Capitano hatte es ihm großen Spaß bereitet, sich verkleidet unter die Einheimischen zu mischen. Während er ihre Gedanken las, hatte er gezielte Fragen gestellt, und so seine Landkarte um einige Minen ergänzt, die ohne offizielle Genehmigung angelegt worden waren.

Magister Thiveus saß an seinem Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Arminios scharfen Blick entging nicht, dass die Manschettenknöpfe aus echtem Gold waren. Wenngleich die Knöpfe des Jacketts geöffnet waren, lag das edle Stück perfekt an. „Meine arme Tochter“, jammerte der Luftmagier. „Magister Arminio, ich bin so froh, dass ihr diesen Auftrag annehmt. Ich habe gehört, Ihr seid eine Koryphäe auf Eurem Gebiet.“

„Seit fast sechzig Jahren finde ich Vermisste auf der ganzen Welt, Magister Thiveus. Ich kenne niemanden, der für diese Aufgabe besser qualifiziert wäre als ich. Erzählt mir von Lorelia.“ In seiner magischen Sicht registrierte Arminio, wie ein Lächeln über das Gesicht des Luftmagiers huschte.

Thiveus setzte seine trübe Miene auf, ehe er sein Haupt hob. Seine Iriden hatten eine ungewöhnlich tiefblaue Farbe. „Bestimmt hat sie sich wieder verirrt. Sie war in letzter Zeit so zerstreut.“

Arminio horchte auf. Dass sich eine Erdmagierin verlaufen würde, war absurd. „Wo wurde sie zuletzt gefunden?“

„In der Muzo-Smaragdmine in Boyacá. Meine Mittelsmänner halfen mir dabei.“

Der Feuermagier faltete die Hände auseinander und grinste. „In Kolumbien verfügt Ihr somit über ein weitläufiges Netz an Informanten.“

„Natürlich. Als Sizilianer versteht Ihr deren Nutzen.“

„Sicher. Ich nehme an, deshalb vermutet Ihr Eure Tochter auch in Brasilien. Eure Kundschafter konnten sie nicht ausfindig machen.“ Da Thiveus nickte, fuhr Arminio fort. „Warum nehmt Ihr an, dass Lorelia zerstreut ist?“

„Meine Tochter vergisst ständig Ort und Zeit. Die viele Arbeit mit der Plantage neben ihrem Studium setzten ihr zu.“

„Was könnt Ihr mir noch über Eure Tochter berichten? Hatten sie Streit?“

„Nein, wir hatten großartige Pläne. Sie half mir auf der Tabakfarm und passte auf die Pflanzen auf. Gut, wir sind einige Male wegen der Bewässerung aneinandergeraten. Wenn ich sie kritisierte, brach sie schnell zusammen. Aber sind nicht alle Frauen so? Man kann sie nicht immer auf Händen tragen.“ Thiveus lächelte, wobei seine vergilbten Zähne sichtbar wurden.

Arminio nickte, um ihn in seiner Aussage zu bestätigen. Während seiner Arbeit hielt er seine Meinung bedeckt. Er wollte die Armlehne des Sessels nutzen, entschied sich jedoch dagegen. Alles in diesem Raum war von einer dünnen Schicht Tabak überzogen. Selbst die Glasscheiben ließen nur diffus das Licht hindurch. Nachdem er die Beine übereinandergeschlagen hatte, legte Arminio seine Hände darauf ab. „Wann habt Ihr Lorelia zuletzt gesehen?“

„Das muss etwa drei oder vier Wochen her sein.“

„Ihr kennt das genaue Datum nicht mehr?“

„Ach, der Handel macht so viel Arbeit. Ich war mit Vorbereitungen beschäftigt, damit meine geliebte Tochter eines Tages meine Geschäfte übernehmen kann. Wir sind uns täglich im Vorbeilaufen begegnet.“ Thiveus wedelte mit der Hand.

Sein Instinkt meldete Arminio, dass er log. „Für meine Arbeit benötige ich eine Erinnerung von Euch an Eure Tochter. Ich muss ein Wärmebild ihres Körpers erhalten, damit ich sie von anderen Frauen unterscheiden kann.“

Thiveus hustete. „Ihr habt bereits die Zeichnung bekommen.“

„Die reicht mir für meine Arbeit nicht.“

„Wisst Ihr, ich teile Erinnerungen nicht gern. Die Nachwirkungen der Psionik ermüden mich tagelang, und ohne Lorelia fehlt mir die Unterstützung, wenn ich krank bin.“ Thiveus holte ein altes Taschentuch aus der Hose und tupfte sich damit die Schweißperlen von der Stirn.

Arminio hielt die Faust vor den Mund und räusperte sich, um seinen Unmut zu überdecken. Dies erklärte, warum Thiveus nicht wie alle anderen Magier sein Aussehen anpasste. Mit dem graumelierten Haar schätzte er sein Gegenüber eher auf fünfzig Jahre als üblicherweise in den Dreißigern. „Warum seid Ihr Euch sicher, dass sie nicht tot ist?“

„Ich fragte die Chronomaga. Sie versicherte mir, dass Lorelia noch lebt, doch ihren Aufenthaltsort wollte sie mir nicht mitteilen.“ Mit zitternden Fingern griff Thiveus nach einer Zündholzschachtel.

Innerlich schmunzelte Arminio. Dass Nelli Frauen schützte, passte zu ihr. „Und eine Lösegeldforderung habt Ihr auch nicht erhalten?“

„Nein, denn dann hätte ich la Policia beauftragen können. Ich bin mir sicher, dass Lorelia nicht entführt worden ist.“

„Gut. Bei meinen Recherchen bin ich persönlich vor Ort. Ihr vermutet sie in Brasilien?“

„Ja. Lorelia verbrachte mit ihrer Meisterin Magistra Glandera viel Zeit in Minas Gerais. Die Edelsteinvorkommen sind kein geeigneter Lebensraum für eine zerbrechliche Frau wie Lorelia. Es wimmelt dort von Schlangen, Pumas und giftigen Spinnen.“

„Wenn es das nur wäre. Was mir mehr Sorgen bereitet, sind die Drogenkartelle, die die Wälder überwachen.“

Die Gesichtsfarbe des Luftmagiers wechselte zu Weiß.

„Sorgt ihr Euch nicht, dass sie in falsche Hände gerät?“

„Deshalb flehe ich Euch an, den den Auftrag anzunehmen. Findet Lorelia und bringt sie zurück. Das Gold wartet bereits in meinem Tresor auf Euch.“

Wieder hatte Arminio dieses seltsame Gefühl im Bauch, doch Thiveus sprach die Wahrheit. „Das werde ich, Magister Thiveus.“

„Schnellstmöglich. Wir haben Termine einzuhalten. Ich brauche Lorelia hier vor Ort“, drängte der Luftmagier.

„Ihr spracht von Familienangelegenheiten. Welche sind das genau?“

„Sie soll …“ Thiveus stutzte. „Sie soll die Familiengeschäfte übernehmen. Das sagte ich bereits.“

„Ach ja, stimmt.“ Arminio stand auf. „Dann will ich Euch nicht länger stören.“

„Ich begleite Euch hinaus.“

Der Stuhl knarzte, als Thiveus aufstand, und er ließ die Zündhölzer in die Anzugtasche gleiten. Arminio fiel dabei auf, dass die hochwertige Kleidung zwei Brandlöcher enthielt. Der ehemals weiße Hut, den er aufsetzte, hatte gelbliche Griffspuren, und rundete Arminios Eindruck des leicht übergewichtigen Mannes ab. Thiveus psionische Fähigkeiten waren so gering, dass es für sein Aussehen nicht reichte. Deshalb hatte er Arminio auch den Brief geschrieben. Wenn der Capitano wollte, könnte er wie ein heißes Messer in Butter in die Gedanken des Magisters eindringen, um die Wahrheit herauszufinden – doch der Kodex der Magierakademie hinderte ihn daran.

Im Freien schloss Arminio die Lider und atmete tief durch. Die frische Luft in seinen Lungen tat gut und erlaubte ihm, unbemerkt in seine magische Wahrnehmung zu wechseln und einen Blick auf das Gelände zu werfen. Wenngleich Thiveus Magier war, hatte er Wachleute auf seinem Grundstück postiert. Allein auf dem Hof zählte er fünf, um das Anwesen sieben. Was ihn mehr beunruhigte, waren die Sicarios, die sich in den Plantagen versteckten, und dieser eine trug sogar eine magische Waffe.

Thiveus nestelte an seiner Gesäßtasche. „Raucht Ihr?“

Arminio streckte sich, um noch etwas Zeit zu gewinnen. Er konnte sich nicht daran erinnern, das Wärmebild des Auftragsmörders bereits einmal gesehen zu haben. Da er auch keine Artefakte der Akademie trug, identifizierte der Capitano ihn als wilden Magier. Ihn schützte kein Kodex. Arminio lächelte vertrauensvoll und beendete seine Sicht, bevor die Lider hob. In der hölzernen Schachtel, die der Kolumbianer ihm entgegenhielt, lagen drei Zigarren seiner eigenen Marke. „Vielen Dank.“ Arminio roch an der Rolle.

„Ich habe für Eure Zeit zu danken.“ Thiveus nahm sich eine und steckte sie in den Mundwinkel.

Es wäre Arminio lieber gewesen, direkt abzureisen, doch er musste wissen, was die Aufgabe des Sicarios war. Neben ihm klimperte es, als der Luftmagier einen Rundschneider aus der Tasche holte, und die Zigarre kürzte. Er reichte ihn an Arminio weiter, der es ihm gleichtat. Noch bevor der Feuermagier ihm beim Anzünden behilflich sein konnte, hatte Thiveus ein Zündholz herausgeholt. Arminio hatte sich an diese Erfindung noch immer nicht gewöhnen können, doch ließ er sich damit auch seine Zigarre anstecken. Paffend starrten die Männer auf das Gelände. Arminios psionische Kräfte waren stark und durch seine Großmutter ausgebildet worden. Zwei Minuten sollten ausreichen, um das Notwendigste zu erfahren.

„Mh, ich schmecke Zedernholz“, begann Arminio sein Ablenkungsmanöver. „Ich weiß, es sind Betriebsgeheimnisse, doch welche Verfahren nutzt ihr für dieses vollmundige Aroma.“

Thiveus Augen leuchteten: „Nach der Ernte hängen wir sie zum Trocknen ...“

Dies war der Moment, auf den der Capitano gewartet hatte. Nickend hörte er mit halbem Ohr dem Luftmagier zu und drang dabei ungehindert in die Gedanken des Sicarios ein. Der Wachmann kratzte sich kurz am Kopf und wunderte sich, dass er so plötzlich Kopfschmerzen bekam, während sich Arminio versicherte, dass er wirklich kein Magier der Akademie war. Seine Aufgabe war es, das Gelände zu schützen, während Lorelia und Skipper … Arminio stutzte. Warum hatte Thiveus nicht gesagt, dass sie verlobt war? Nun denn, der Kolumbianer sollte die Eindringlinge von den Kokafeldern fernhalten. Erneut sog Arminio an der Zigarre und stellte eine Frage zur Absorption des Aromas. Dem Sicario pflanzte er derweil eine Frage in den Kopf: Wann hatte er zum letzten Mal Lorelia gesehen? Leuchtend rot quoll Blut aus einer Beinwunde und Arminio zog so scharf die Luft ein, dass er husten musste. „Nein, alles gut“, beruhigte er Thiveus, während Arminio auf den Boden starrte. Wenn der Luftmagier seine glutroten Iriden sah, würde er in Erklärungsnot kommen. Froh, dass er keine Sekunde verpasst hatte, folgte Arminio weiter den Erinnerungen. Der Sicario sah in Lorelias geweitete Augen. „Für das, was Lorelia für die Farm tun sollte, benötigt sie keine Beine“, dachte er. Die Iriden der Erdmagierin wechselten ihre Farbe von Blau zu Braun. Ein Stein schoss ihm die Waffe aus der Hand, bevor der Mann das Bewusstsein verlor.

Nur mit Mühe konnte der Capitano seine Wut unterdrücken. „Morgen werde ich vor Ort mit der Suche beginnen. Ist es in Ordnung, wenn ich mich telepathisch bei Euch melde?“, fragte Arminio möglichst teilnahmslos, während er magisch die Glut löschte.

„Ja, doch lasst uns die Gespräche kurz halten.“ Der Luftmagier neigte sein Haupt. „Danke, dass ihr den Auftrag annehmt.“

Der Capitano erwiderte die Geste und öffnete mit einer Handbewegung ein Portal nach Catania.

Im Dämmerlicht des Tages saß Arminio mit einem Glas Wein auf seiner Terrasse und starrte auf den erkalteten Zigarrenstumpen. Noch immer konnte er nicht fassen, was er in den Gedanken des Auftragsmörders gelesen hatte. Zwei Thesen hatte der Capitano aufgestellt. Vorausgesetzt, dessen Chef war wirklich Thiveus, war dieser völlig inkompetent. Die Aufgabe eines Sicario war, Menschen umzubringen und nicht, die eigene Tochter zu bewachen. Noch schlimmer wäre, wenn der Luftmagier befohlen hätte, Gewalt einzusetzen. Nichtsdestotrotz: Die Tatsache, dass der Sicario es wagte, auf Lorelia zu schießen, zeigt, wie viel Thiveus von ihr hielt, und dass der Wachmann nicht befürchten musste, für seine Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Im Zweifel für den Angeklagten, dachte Arminio. Solange ich nur Vermutungen habe, muss ich das Spiel mitspielen.

Diese Zigarre würde Arminio nie wieder anzünden. In einem hohen Bogen warf er sie zu seiner Feuerschale. Kurz bevor sie landete, genügte ein kleiner magischer Impuls, um sie in Flammen aufgehen zu lassen. Dem Wind dabei zuzusehen, wie er den Rauch emporwirbelte und verteilte, gab ihm keine Genugtuung.

Diese Mission hatte jetzt endgültig seinen Ehrgeiz geweckt.

Please Login in order to comment!